Die Chronobiologie ist eine relativ junge Wissenschaft, die in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Überall auf der Welt erhält die Chronobiologie immer mehr Aufmerksamkeit. Mediziner, Forscher und die Öffentlichkeit beginnen die Vorteile der Anwendung chronobiologischer Prinzipien bei allem, von der Verabreichung von Medikamenten bis hin zur Entscheidung, welche Tageszeit für Sport am besten geeignet ist, zu erkennen. Buchautor und Chronobiologie Dr. Jan Fauteck erklärt in diesem Interview, worum es sich bei der jungen Wissenschaft handelt, und welchen Einfluss die Chronobiologie auf unser Leben hat.
Sehr geehrter Herr Dr. Fauteck, seit über 15 Jahren sind Sie in der medizinischen Forschung tätig. Eines Ihrer Hauptforschungsgebiete ist die sogenannte Chronobiologie, ein Bereich, der in der Medizin recht unbekannt ist. Was fasziniert Sie an diesem Thema und worin sehen Sie Ihre primären Aufgaben?
Die Erforschung der Chronobiologie ist die Suche nach den Rhythmen, die unser Leben bestimmen. Viele unserer körpereigenen Prozesse unterliegen bestimmten physiologischen Abläufen, die sich in vorher zeitlich festgelegten Perioden immer und immer wieder wiederholen. Das Interesse eines Chrono-Biologen liegt darin, diese Regelmäßigkeit genauer zu beschreiben und dort, wo es nötig ist, die Auswirkungen möglicher Fehlfunktionen solcher Rhythmen zu untersuchen. Unser Bestreben ist es, die Ursachen einiger Krankheiten beziehungsweise Fehlfunktionen unseres Körpers bestimmten zeitlichen Komponenten zuzuordnen, was man daher auch als das Studium der Chrono-Physiologie und der daraus abgeleiteten Chrono-Pathologie bezeichnen könnte.
Am Ende erhoffen wir uns, für diese Krankheitsbilder einen sogenannten chrono-therapeutischen Ansatz zu finden, der es erlaubt, die Ursache dieser Krankheit chronobiologisch korrekt zu bekämpfen, um dadurch neue Behandlungsmöglichkeiten zu erhalten, die sicherlich wesentlich weniger Nebenwirkungen und gegebenenfalls wirksamer sind als die bisherigen Therapien. Mein persönliches Interesse liegt diesbezüglich darin, neue Medikamente zu entwickeln, die diesem Prinzip gerecht werden. Ich verstehe mich daher als Chrono-Pharmakologen, frei nach dem Motto: «Zur richtigen Zeit das richtige Präparat.» Vielleicht wird der moderne Mediziner der «Uhrmacher» unseres Körpers werden, indem er unsere inneren Zeitgeber neu einstellt.
Eine jede Person unterliegt verschiedenen Rhythmen und wird durch unterschiedliche innere Uhren beeinflusst. Wie wichtig ist das perfekte Zusammenspiel dieser sogenannten Zeitgeber, und welches sind die wichtigsten Uhren, durch die wir am meisten beeinflusst werden?
Alle Lebewesen besitzen genetisch festgelegte innere Zeitgeber, die zum Teil mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten parallel nebeneinander herlaufen. Zusätzlich werden wir durch äußere Taktgeber beeinflusst. Zu den bekanntesten dieser Letztgenannten gehört zum Beispiel der Tag-Nacht-Rhythmus, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass wir nachtsüber schlafen, und am Tag fit sind. Im Inneren wirken diese äußeren Impulse auf die dort ablaufenden Prozesse: So blockiert z.B. das Licht am Tag die Ausschüttung von Melatonin, was dazu führt, dass wir normalerweise nur nachts schlafen, wenn dieses Hormon produziert wird. Andere inneren Uhren sind dafür verantwortlich, dass unsere anderen Hormone überwiegend in den frühen Morgenstunden produziert werden, sodass wir für den anstehenden Tag gerüstet sind. Wieder andere Strukturen bewirken, dass die Frau einen monatlichen Zyklus, der in aller Regel 28 Tage dauert, besitzt. Inwieweit hierbei der Mondzyklus, ebenfalls ein Rhythmus mit einer Länge von 28 Tagen, von Bedeutung ist, wissen wir zur Zeit noch nicht. Unabhängig von diesen relativ einfach zu erkennenden Rhythmen gibt es weitere, sehr komplexe Faktoren, die diese Rhythmen beeinflussen. So ist uns zum Beispiel bekannt, dass selbst der Alterungsprozess die Rhythmik unserer inneren Uhren stark verändern kann.
Mit anderen Worten, es sieht so aus, als ob mit dem Altern manche unserer inneren Uhren langsamer, und andere eventuell schneller laufen als ursprünglich geplant.
Am ehesten lässt sich das komplizierte Zusammenspiel dieser äußeren Einflüsse und den inneren Zeitgebern mit dem perfekten Auftreten eines Musikorchesters vergleichen: Jeder Musiker könnte nach seinem individuellen Takt spielen, damit aber eine harmonische Musik entsteht, müssen sich alle auf einen Rhythmus einigen, der meistens durch den Dirigenten vorgegeben wird. Oft erst nach langer Übung wird das Orchester perfekt spielen, so auch unser Körper, der erst in einem gewissen Alter zu 100 % funktioniert. Spielen die Musiker das eingeübte Stück schon sehr lange, schleichen sich Fehler ein – ein Umstand, den man mit dem Alterungsprozess vergleichen könnte: Die inneren Uhren laufen aus dem Rhythmus, und bestimmte Krankheiten tauchen auf.
Sie sprachen in Ihrem Beispiel von einem Dirigenten. Gibt es einen solchen auch in der Chronobiologie, und was ist mit äußeren Störfaktoren? Gibt es sogenannte Zwischentöne, die das «Orchester Mensch» aus dem Takt werfen?
Beide Fragen würde ich mit einem klaren JA beantworten. Für mich ist der Hauptdirigent der Umweltfaktor Licht/Dunkelheit. Dieser äußere Impuls, dem wir uns in aller Regel nicht entziehen können, wird, wie bereits erwähnt, in unserem Körper in das innere Signal Melatonin umgesetzt. Dieses Nacht-Hormon reguliert dann unsere innere Uhr, den Nucleus soprachiasmaticus, jeden Tag bzw. jede Nacht aufs Neue, indem es die Funktion jeden Tag wieder auf die Zeitdauer von 24 Stunden einstellt. Sollte uns dieser äußere Impuls komplett fehlen, z.B. bei absoluter Blindheit, kommt es zwar auch zu einer rhythmischen Freisetzung des Hormons Melatonin, jedoch stellt sich bei diesen Personen ein Zeitfenster von ca. 25 Stunden anstatt den üblichen 24 Stunden ein. Alle untergeordneten Rhythmen stellen sich früher oder später dann auch auf diesen Rhythmus ein, was aber zu Problemen führen wird, da dieser Rhythmus mit dem normalen Tagesablauf von 24 Stunden nicht vereinbar ist. Ein ähnliches Problem tritt auf, wenn wir uns innerhalb kürzester Zeit auf neue Tagesabläufe einstellen müssen, wie zum Beispiel bei Schichtarbeit oder Interkontinentalflügen.
Da unsere innere Uhr nur um ca. 1 bis 2 Stunden pro Tag vor- bzw. zurückgestellt werden kann, leiden diese Personen häufig für 5 bis 7 Tage an unterschiedlichsten Störungen, was allgemein auch als Jetlag bekannt ist. Unabhängig von solchen äußeren Störungen gibt es Faktoren, die das perfekte Abstimmen aller Rhythmen beeinflussen können. So sollte z.B. darauf geachtet werden, dass einige Produkte, seien es nun Nahrungsstoffe oder Medikamente, nur zu bestimmten Zeiten eingenommen werden. Dies hängt sowohl von ihrer Wirkung im Körper ab als auch von dem Umstand ab, dass sie zu bestimmten Tageszeiten besser aufgenommen werden als zu anderen. Werden diese Zeitpunkte nicht beachtet, kann es zu einer kurzfristigen Störung der inneren Harmonie kommen.
Unabhängig von den obengenannten äußeren Faktoren, die unseren inneren Rhythmus beeinflussen können, hat auch das Altern eine gewisse Bedeutung in diesem Zusammenhang. Aus Ihrer Sicht, gibt es hierfür bestimmte Anzeichen oder neuere Erkenntnisse?
Untersucht man das Zusammenspiel der verschiedenen Uhren in den unterschiedlichsten Altersgruppen, lässt sich feststellen, dass es altersspezifische Veränderungen gibt. Bei einem Neugeborenen sind viele Zeitgeber noch nicht funktionstüchtig, da sie noch nicht benötigt werden. Sein zeitlicher Tagesablauf wird somit lediglich durch die Grundbedürfnisse Nahrungsaufnahme und Regeneration bestimmt, was dazu führt, dass er in einem komplett eigenständigen Rhythmus lebt. In der Pubertät, dem Zeitpunkt, zu dem viele der inneren Zeitgeber ihre Arbeit aufnehmen, kommt es vermehrt zu Abstimmungsproblemen. Bestimmte Uhren benötigen längere Zeit, um sich in das Gesamtgefüge einzuordnen, als andere. So ist zum Beispiel bekannt, dass die periodische Erholungsphase fast immer verschoben ist, was u.a. dazu führt, dass diese Jugendlichen erst spät einschlafen, und daher morgens oft spät aufwachen. Ein solcher Zustand ist nicht auf die sogenannte «Sturheit» oder «Widerspenstigkeit» der Jugendlichen zurückzuführen, sondern es ist ein physiologischer Prozess. Die logische Schlussfolgerung sollte daher sein, z.B. die Schule erst ab 10 Uhr starten zu lassen, und nicht um 8 Uhr, da die meisten Jugendlichen erst zu diesem Zeitpunkt richtig erholt sein können.
Der letzte Zeitpunkt, in dem sich unsere inneren Uhren erneut verändern, ist der dritte Lebensabschnitt. Mit den Jahren fallen einige dieser Zeitgeber komplett aus, oder fangen zumindest an, langsamer zu laufen. Hierdurch kommt es zu ganz bestimmten Befindlichkeitsstörungen, wie z.B. zu Schlafstörungen, Depressionen, Wechseljahrbeschwerden usw. Zurzeit laufen Studien, die auch andere Erkrankungen wie z.B. den altersbedingten Diabetes in einen chronobiologischen Zusammenhang setzen. Sollten sich die bis heute erzielten Studienergebnisse bestätigen, ließen sich dadurch eventuell bessere vorbeugende Maßnahmen ableiten. Unabhängig hiervon wissen wir bereits, dass viele der bereits verfügbaren Therapien neu überdacht werden müssen, da sie häufig zur falschen Tageszeit und/oder in einer nicht optimalen Darreichungsform zum Einsatz kommen. Meines Erachtens stellt die Chronopharmakologie die neuste Herausforderung der medizinischen Forschung dar, denn eines ist ganz bestimmt richtig: «Das Leben im Einklang mit der inneren Uhr muss oberstes Ziel aller Maßnahmen sein!»